In Mythologies beschreibt Roland Barthes 1957, wie alltägliche Dinge – ob Frisuren, Autos oder Lebensmittel – in einer weitgehend säkularisierten Welt die Funktion von Mythen übernehmen. Künstler haben sich für dieses Phänomen alltäglicher Überhöhung schon früh interessiert, es in ihren Werken auf vielfältige Weise zur Geltung gebracht und dabei die Kunstwelt des Elfenbeinturms in ihren Grundfesten erschüttert.
Die Komponisten des Abends reflektieren den Mythos Alltag auf unterschiedliche Weisen, und sie versuchen wie George Lopez in seinen monumentalen Werken, zu einer Form von Unmittelbarkeit zu gelangen, die nicht hinter heutige Erkenntnisse zurückfällt, sondern die Musik, und damit die Wahrnehmung vorantreibt. So weist Martin Smolka in Euforium die Interpreten an, wie Anfänger zu spielen. Die Verzerrung entwertet ihr Spiel nicht etwa, sie verleiht der Musik einen nostalgischen Glanz, sie evoziert die Faszination von Musik jenseits der so genannten Hochkultur und die Aura des auf dem Weg der Professionalisierung längst abhanden gekommenen Makels. Thomas Meadowcroft bedient sich in ground manual einer Schleifmaschine. Das Utensil aus dem Heimwerkermarkt integriert er in das Ensemble, behandelt es aber genauso, wie die anderen beteiligten Instrumente. Anders verwendet Walter Zimmermann eine Töpferscheibe in seinem Streichtrio distentio: im Mittelsatz verbindet er das real, aber fast lautlos rotierende Werkzeug mit Augustinus’ Gedanken über die Zeit. Bei Volker Heyn sind es in rozs die Verweise auf den Blues, die zum Mythos führen und ihn zugleich entlarven – der improvisierende Unterschichtmusiker ist eine Wunschvorstellung, mit Bedeutung aufgeladen, ein menschlicher Fetisch. George Lopez schließlich stellt seiner Komposition Gonzales the Earth Eater, einer Fieberkurve existentieller Extremsituation, auf der Titelseite der Partitur ein Zitat von William S. Burroughs voran: „Du musst meiner Truppe verzeihen, wenn sie nicht unbedingt so aus dem Ei gepellt ist, wie es dein deutsches Ideal verlangt…“.